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Musterklagen des dbb hamburg aus 2011 - Ergänzende Informationen III

17. Dezember 2020

Die Prüfungsstufen und die Prüfparameter der obersten Gerichte

Mit Blick auf die Rechtsprechung des BVerfG aus Mai und November 2015 (2 BvL 19/09 u.a.) sowie auf den Vorlagebeschluss des BVerwG (Beschluss vom 30.10.2018; 2 C 34/ 17) und auf die neueste Rechtsprechung im Hinblick auf die Richterbesoldung in Berlin aus Mai 2020 (Beschluss vom 04.05.2020; BvL 4/ 18) haben die obersten Gerichte zur Prüfung der einschlägigen Parameter in der ersten Prüfungsstufe eindeutige Vorgaben näher definiert. So könnte es aus Sicht des BVerwG schon ausreichen, wenn im ersten Prüfungsschritt ledig zwei Parameter (mit entsprechend hoher Gewichtung) erfüllt sind, um die Vermutung einer verfassungswidrigen Alimentation zu „unterfüttern“.

Erste Prüfungsstufe (5 Prüfparameter):

1. Parameter: Tarifentwicklung öffentlicher Dienst:

Deutlicher Rückstand der Besoldungsentwicklung zu den Tarifergebnissen der Angestellten im öffentlichen Dienst im jeweils betroffenen Land. Dieser ist gegeben, wenn die Differenz zwischen Tarifergebnis und Besoldungsanpassung mindestens 5 % des Indexwertes der erhöhten Besoldung in einem Betrachtungszeitraum von jeweils 15 Jahren beträgt.

Aktuell bestätigt der Senat im Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz 2019- 2021 bereits in der sogenannten Ausgangslage die Erfüllung dieses Parameters für die Bes. Gr. A 4 bis A 6 sowie A 8 bis A 12. Selbst in der vorgeschriebenen Staffelprüfung im Zeitraum von 15 Jahren ergibt sich auch hier eine Erfüllung des Parameters für die Bes. Gr. A 4 bis A 10. Im Prognosezeitraum 2019 wird senatsseitig der Parameter für die Bes. Gr. A 4 bis A 13 bestätigt. Im Prognosezeitraum 2020 (Gesetzeswirkung ab dem 01.01.2020) wird senatsseitig der Parameter für die Bes. Gr. A 4 bis A 13 bestätigt. Im Prognosezeitraum 2021 (Gesetzeswirkung ab dem 01.01.2021) wird senatsseitig der Parameter in allen Besoldungsgruppen mit Ausnahme der A 7 bestätigt.

2. Parameter: Nominallohnentwicklung

Deutliche Abweichung (Rückstand) der Besoldungsentwicklung von der Entwicklung des Nominallohnindex im jeweils betroffenen Bundesland (Steuerbelastung und Sozialabgaben bleiben unberücksichtigt. Eine deutliche Abweichung ist gegeben, wenn die Differenz zwischen Besoldungsentwicklung und Entwicklung des Nominallohnindex mindestens 5 % des Indexwertes der erhöhten Besoldung bei Zugrundelegung eines Zeitraumes von 15 Jahren bis zu dem verfahrensgegenständlichen Zeitraum beträgt.

In der Gesetzesbegründung zum Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz 2019 - 2021 bestätigt der Senat die Erfüllung des 2. Parameters in allen Besoldungsgruppen. Aus der Staffelprüfung im Zeitraum von 15 Jahren ergibt sich die Erfüllung dieses Parameters für die Bes. Gr. A 10 und höher.

In allen Prognosezeiträumen (2019 – 2021) wird senatsseitig dieser Parameter ebenfalls als erfüllt angesehen.

3. Parameter: Verbraucherpreisindex

Eine deutliche Abweichung ist gegeben, wenn die Besoldungsentwicklung um mindestens 5 % hinter der Entwicklung des Verbraucherpreisindex in den zurückliegenden 15 Jahren und ggf. in einem weiteren überlappenden Zeitraum zurückbleibt.

Bei der Beurteilung dieses Parameters „scheiden sich die Geister“. Senatsseitig wird unterstellt, dass es im Abgleich zum Bundesindex keine Unterscheide gibt. Dies wird jedoch auch vom VG Hamburg in den Vorlagebeschlüssen an das BVerfG angezweifelt, da die Lebenshaltungskosten in Hamburg weit über dem Bundesdurchschnitt liegen. Für Hamburg und Schleswig-Holstein wurde bis 2015 kein eigener Verbraucherpreisindex erhoben.

4. Parameter: Lohnabstandsgebot/ Abstand zur Grundsicherung:

Die Nettoalimentation in den unteren Besoldungsgruppen muss einen Mindestabstand zum Grundsicherungsniveau aufweisen; ein Abstand zum sozialhilferechtlichen Existenzminimum von mindestens 15 % darf nicht unterschritten werden. Dem Grundsicherungsniveau gegenüberzustellen ist die Nettoalimentation, die einer vierköpfigen Familie auf Grundlage der untersten Besoldungsgruppe zur Verfügung steht. Maßgeblich ist die niedrigste vom Dienstherrn für aktive Beamte ausgewiesene Besoldungsgruppe.

Hier hat bereits das BVerfG (und das VG Hamburg) festgestellt, dass allein die Verletzung dieses Parameters die Vermutung einer nicht mehr amtsangemessenen Alimentation zulässt.

Das BVerfG hat in dem Beschluss vom 17.11.2015 (2 BvL 19/09 u.a.) ausgeführt, dass bei der Bemessung der Besoldung der qualitative Unterschied zwischen der Grundsicherung für Arbeitssuchende und dem erwerbstätigen Beamten geschuldeten Unterhalt deutlich werden muss. Dieses Abstandsgebot wird nach den Ausführungen des VG Hamburg in allen maßgeblichen Jahren (2011 – 2019) verletzt.

Eine Verletzung des Mindestabstandsgebots betrifft insofern das gesamte Besoldungsgefüge, als sich der vom Besoldungsgesetzgeber selbst gesetzte Ausgangspunkt für die Besoldungsstaffelung als fehlerhaft erweist (Lohnabstandsgebot)

5. Parameter: Quervergleich der Besoldung mit dem Bund und anderen Bundesländern.

Der 5. Parameter bedarf keiner gesonderten Prüfung. In einem überschlägigen Quervergleich mit der Besoldung des Bundes und der Länder beträgt der Abstand nicht annähernd die geforderten 10%. Dieser Parameter wird nicht erfüllt.

Sofern in der ersten Prüfungsstufe festgestellt wird, dass zumindest 2 wenn nicht sogar 3 Parameter verletzt sind (Besonderheit siehe 4. Parameter), so ist der Weg in die zweite Prüfungsstufe frei.

 

Zweite Prüfungsstufe:

Auf einer zweiten Prüfungsstufe sind die Ergebnisse der ersten Prüfungsstufe mit den weiteren alimentationsrelevanten Kriterien im Rahmen einer Gesamtabwägung zusammenzuführen.

Dafür sind zunächst die Feststellungen der ersten Prüfungsstufe, insbesondere das Ausmaß der Über- oder Unterschreitung der Schwellenwerte, im Wege einer Gesamtbetrachtung zu würdigen und etwaige Verzerrungen. Den fünf Parametern der ersten Prüfungsstufe kommt für die Gesamtabwägung eine Steuerungsfunktion hinsichtlich der Prüfungsrichtung und -tiefe zu: Sind mindestens drei Parameter der ersten Prüfungsstufe erfüllt, besteht die Vermutung einer der angemessenen Beteiligung an der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des Lebensstandards nicht genügenden und damit verfassungswidrigen Unteralimentation. Diese kann im Rahmen der Gesamtabwägung sowohl widerlegt als auch erhärtet werden. Sind ein oder zwei Parameter erfüllt, müssen die Ergebnisse der ersten Stufe, insbesondere das Maß der Über- beziehungsweise Unterschreitung der Parameter, zusammen mit den auf der zweiten Stufe ausgewerteten alimentationsrelevanten Kriterien im Rahmen der Gesamtabwägung eingehend gewürdigt werden.

Zu den auf der zweiten Stufe zu untersuchenden alimentationsrelevanten Kriterien zählen neben dem Ansehen des Amtes in der Gesellschaft sowie der vom Amtsinhaber geforderten Ausbildung und Beanspruchung, die Entwicklung der Qualifikation der eingestellten Bewerber, der Vergleich mit den durchschnittlichen Bruttoverdiensten sozialversicherungspflichtig Beschäftigter mit vergleichbarer Qualifikation und Verantwortung sowie die Entwicklungen im Bereich der Beihilfe und der Versorgung.

In der Höhe der Alimentation muss sich die besondere Qualität und Verantwortung eines Amtsträgers widerspiegeln. Die Alimentation bildet die Voraussetzung dafür, dass sich der Beamte ganz dem öffentlichen Dienst als Lebensberuf widmen und in rechtlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur Erfüllung der dem Berufsbeamtentum vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe, im politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern, beitragen kann (auch als Schutzfunktion für den Beamten).

Die Amtsangemessenheit der Alimentation ist ferner im Lichte des Niveaus der Beihilfeleistungen zu bewerten. Die Gewährung von Beihilfen findet ihre Grundlage in der Fürsorgepflicht des Dienstherrn. Das gegenwärtige System der Beihilfe ist zwar nicht Bestandteil der verfassungsrechtlich geschuldeten Alimentation; von Verfassungs wegen muss die amtsangemessene Alimentation lediglich die Kosten einer Krankenversicherung decken, die zur Abwendung krankheitsbedingter, durch Leistungen aufgrund der Fürsorgepflicht nicht ausgeglichener Belastungen erforderlich ist. Die Alimentation ist aber dann nicht mehr ausreichend, wenn die Krankenversicherungsprämien, die zur Abwendung krankheitsbedingter und nicht von der Beihilfe ausgeglichener Belastungen erforderlich sind, einen solchen Umfang erreichen, dass der angemessene Lebensunterhalt der Beamten oder Versorgungsempfängers nicht mehr gewährleistet ist. Das Prinzip der amtsangemessenen Alimentation verlangt, eine Auszehrung der allgemeinen Gehaltsbestandteile durch krankheitsbezogene Aufwendungen zu verhindern.

Versorgung und Besoldung sind Teilelemente des einheitlichen Tatbestands der Alimentation und schon bei Begründung des Beamtenverhältnisses garantiert. Der Dienstherr ist gehalten, den Unterhalt der Richter und Staatsanwälte lebenslang – und damit auch nach Eintritt in den Ruhestand – zu garantieren. Kürzungen im Bereich des Versorgungsrechts haben zur Konsequenz, dass die Amtsträger einen größeren Teil ihrer Bezüge zum Zwecke der privaten Altersvorsorge aufwenden müssen, um nicht übermäßige Einbußen ihres Lebensstandards bei Eintritt in den Ruhestand hinnehmen zu müssen. Auch dies kann zu einer Unterschreitung der verfassungsrechtlich gebotenen Alimentation führen.

In der Gesetzesbegründung zum Besoldungs- und Versorgungsanpassungsgesetz 2019 – 2021 führt der Senat dazu u.a. aus, dass es dem Beamten bzw. der Beamtenfamilie anscheinend zuzumuten ist, die seit dem 01.08.2018 eingeführte pauschale Beihilfe in Anspruch zu nehmen, weil diese Variante die wirtschaftlichste Wahl darstellt. Damit zwingt der Senat quasi die Beamten in die gesetzliche Krankenversicherung, obwohl ihnen im Gesetz selbst eine Wahlmöglichkeit eingeräumt wird. Nur mit der Berücksichtigung der pauschalierten Beihilfe für die freiwillige Versicherung in einer gesetzlichen Krankenkasse ist der Mindestabstand zur Grundsicherung gewahrt. Völlig außer Acht lässt der Senat die Tatsache, dass alle Bestandsbeamten, die nicht über entsprechende Vorversicherungszeiten in der GKV verfügen, die pauschalierte Beihilfe nicht in Anspruch nehmen können.

Das VG Hamburg setzt in seiner Prüfung zum 4. Parameter die Beiträge zur privaten Krankenversicherung an und nicht -wie vom Senat ausgeführt- die pauschalierte Beihilfe, die finanziell weit niedriger liegt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die zweite Prüfungsstufe dazu dient, die auf der ersten Prüfungsstufe „vermutete“ Verfassungswidrigkeit zu erhärten bzw. zu abzumildern. Nach Auffassung des VG Hamburg sind in Hamburg keine Anhaltspunkte ersichtlich, die die vermutete Verfassungswidrigkeit aus der ersten Stufe abmildern.

 

Dritte Prüfungsstufe:

Ergeben die erste und zweite Prüfungsstufe, dass die als unzureichend angegriffene Alimentation grundsätzlich als verfassungswidrige Unteralimentation einzustufen ist, bedarf es der Prüfung, ob dies im Ausnahmefall verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann. Der Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation ist Teil der mit den hergebrachten Grundsätzen verbundenen institutionellen Garantie des Art. 33 Abs. 5 GG. Soweit er mit anderen verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen oder Instituten kollidiert, ist er entsprechend dem Grundsatz der praktischen Konkordanz im Wege der Abwägung zu einem schonenden Ausgleich zu bringen.

Verfassungsrang hat (neben Art 33 Abs 5 GG) namentlich das Verbot der Neuverschuldung in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG. Gemäß Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG sind Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen (sogenannte Schuldenbremse).

Ausnahmsweise ist eine Neuverschuldung bei konjunkturellen Abweichungen von der Normallage sowie bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen zulässig. Die Haushalte der Länder waren in den Haushaltsjahren 2011 bis 2019 so aufzustellen, dass im Haushaltsjahr 2020 die Vorgabe aus Art. 109 Abs. 3 Satz 5 GG (keine strukturelle Nettokreditaufnahme) erfüllt wird. Dabei mussten die Haushaltsgesetzgeber der Länder das Ziel der Haushaltskonsolidierung im Jahr 2020 im Blick behalten. Konkretere Verpflichtungen zur Erreichung dieses Ziels ergeben sich aus Art. 143d Abs. 1 Satz 4 GG nicht.

Ungeachtet der Verschärfung der Regeln für die Kreditaufnahme durch die Neufassung des Art. 109 Abs. 3 GG vermögen indes allein die Finanzlage der öffentlichen Haushalte oder das Ziel der Haushaltskonsolidierung den Grundsatz der amtsangemessenen Alimentierung nicht einzuschränken. Andernfalls liefe die Schutzfunktion des Art. 33 Abs. 5 GG ins Leere. Auch das besondere Treueverhältnis verpflichtet Beamte nicht dazu, stärker als andere zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte beizutragen.

Hervorzuheben ist daher, dass das Finanzrahmengesetz der Hamburgischen Bürgerschaft zur Erreichung der für Hamburg in der Hamburgischen Verfassung festgeschriebenen Schuldenbremse erst gut ein Jahr nach dem Gesetz über die jährliche Sonderzahlung und die Besoldungs- und Versorgungsanpassung 2011/ 2012 verabschiedet wurde und demnach zur Begründung der erheblichen Kürzungen bzw. Streichung der Sonderzahlung nicht herangezogen werden kann. Vielmehr handelte es sich dabei um eine nachgeschobene Begründung.

Im Weg der praktischen Abwägung und Konkordanz zwischen zwei Grundrechten ist damit dem Grundrecht nach Art. 33 Abs. 5 GG Vorrang einzuräumen, zumal das Gesetz über die jährliche Sonderzahlung und die Besoldungs- und Versorgungsanpassung 2011/ 2012 einzig und allein auf Sparmaßnahmen für eine einzige Berufsgruppe abzielt und daher nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Finanzrahmengesetz zu sehen ist.

 

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass einige Textpassagen zur zweiten und dritten Prüfungsstufe aus den bereits ergangenen Grundsatzurteilen des BVerfG entnommen wurden. Das VG Hamburg hat in seinen Vorlagebeschlüssen an das BVerfG ebenso gleichlautende Hinweise aus eben genannten Grundsatzurteilen übernommen und speziell auf Hamburg abgestellt. Auch wenn es derzeit für die verbeamtete Kollegenschaft in Hamburg recht gut aussieht, muss letztendlich das Urteil des BVerfG abgewartet werden. Über die zeitliche Dauer des abschließenden Verfahrens können derzeit keine Angaben gemacht werden.

gez. Rudolf Klüver